BELARUS NEWS AND ANALYSIS

DATE:

15/03/2006

It's economy? Stupid!

Tatjana Montik

In einer renommierten britischen Zeitung, THE GUARDIAN, fand sich dieser Tage ein Kommentar eines gewissen Herrn Jonathan Steele unter dem Titel "Europa und die USA entscheiden ueber den Wahlgewinner noch vor der Wahl". Es geht darin um die bevorstehende Praesidentschaftswahl in Belarus.

Der Autor fragt den Leser: Kann der Staatschef eines Landes, in dem die Wirtschaft in den Gang gebracht, das Bruttoinlandprodukt gesteigert, das Einkommensniveau erhoeht, die Armut bekaempft und keine Kapitalbildung durch die Oligarchen zugelassen wurde, abgewaehlt werden? "Nie im Leben!", antwortet der Autor auf seine eigene Frage und argumentiert mit beruehmten Worten Bill Clinton: It's economy, stupid! Wie sehnsuechtig sich der Westen auch das wuenschen wuerde, meint Herr Steele, der Praesident eines solchen Landes wuerde bei der Wahl auf jeden Fall wieder gewaehlt werden, es sei denn, in seinem Land gibt es ethnische Saeuberungen, Massenrepressionen oder Alarm schlagende Kriminalitaet.

Scharfer Kritik unterzieht der Kolumnist vor allem die Hilfen des Westens an die wei?russische Opposition, die unehrlich, blind und vor allem undemokratisch sei. Freilich gibt der Autor zu: von Presse- und Meinungsfreiheit kann in Belarus keine Rede sein und Andersdenkende und Oppositionelle seien dort scharf verfolgt. Doch welche Ziele verfolgten die EU und die USA, die in die Opposition und die unabhaengige Presse massive Geldhilfen hineinpumpen und in Belarus eine neue Revolte gegen das Regime in die Wege leiten wollen? Der Westen, welchen Anschein er auch immer erzeugen moege, tue all das nicht zur Demokratie- und Freiheitsentwicklung in Belarus, sondern lediglich deshalb, weil der wei?russische Herrscher souveraen agiere und nach der Pfeife des Westens nicht tanzen moechte, findet der Artikelautor. Besonders sinnlos und unehrlich seien die westlichen Hilfen aber deshalb, weil die meisten Menschen in Belarus mit ihrem Leben durch und durch zufrieden seien: mit ihrem Lebensstandard, mit dem Wirtschaftsaufschwung und der ueberall herrschenden Stabilitaet, schreibt der Experte, der seine Insider-Informationen aus Belarus seit zehn Jahren ausschlie?lich aus den Telefonaten mit wei?russischen Bekannten bezieht.

Ich moechte Sie fragen, Herr Steele: Haben Sie sich wenigstens einmal Gedanken darueber gemacht, dass es in einem Sarg ebenfalls ausgesprochen ruhig, sicher, sauber und stabil sein koennte? Wagten Sie, Herr Steele, Belarus, diese angebliche letzte Insel der postkommunistischen Glueckseligkeit, doch zwischendurch persoenlich aufzusuchen, wuerden Sie einiges erleben, was man am Telefon rein technisch nicht erleben kann.

Sie schreiben so schoen von einem wei?russischen Wirtschaftswunder, Herr Steele, und preisen ein postkommunistisches Experiment an, welches dem wei?russischen Herrscher gelungen sei. Haben Sie sich bevor Sie sich an diese Zeilen setzten, vielleicht nicht nur mit den WMF-Daten, sondern auch mit lebendigen Experten unterhalten und die Quellen dieses wei?russischen Wunders zu erkunden versucht? In einem haben Sie recht: Man kann von einem gewissen Wohlstand der Wei?russen schon sprechen. Seine Herkunft ist allerdings alles andere als gesund und er ist bei weitem nicht stabil. Denn bewirkt wird er durch die Gunst eines Staates, der ihm zur Eigennutzung und Weitervermarktung billiges OEl und Gas gewaehrt, deren Produkte auf dem internationalen Markt derzeit Hochkonjunktur haben.

Haben Sie sich die wei?russischen Banken angeschaut, die, um vom Staat nicht vernichtet zu werden, die so genannten ' gut entwickelten' Kolchosen und die Verlust bringenden Betriebe subventionieren muessen? Ein System, das von heute auf morgen wie ein Kartenhaus zerfallen koennte.

In einem haben Sie recht, Herr Steele: Der wei?russische Machthaber versteht es, die aus den Gas- und OElgeschaeften gewonnenen hohen Ertraege gekonnt auf die Beduerftigen und sozial Schwachen zu verteilen, so dass man tatsaechlich von einem verhaeltnismae?igen Wohlstand sprechen koennte. Aber der offizielle Durchschnittslohn von 180 Euro - ist es das, was Sie, Herr Steele, als Wohlstand bezeichnen? Verglichen mit der Sowjetaera - ja, doch wie viel Jahre sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergangen? Wissen Sie, wieviel in Minsk eine monatliche Wohnungsmiete fuer ein bescheidenes Zweizimmerappartement betraegt? Fragen Sie Ihre Freunde, und sie werden Ihnen sagen: "300 Euro kostet es kalt, Herr Steele!" Gehen wir weiter. Keine Arbeitslosigkeit? Natuerlich nicht! Denn die Jobs mit dem Monatslohn von 60 Euro bei einer 45-Stundenwoche, findet man wirklich auf Schritt und Tritt! Haben Sie, Herr Steele, gesehen, wie es den Menschen geht, die in Belarus fuer dieses Geld leben muessen? Oder haben Sie mit einem Menschen gesprochen, der ueber, sagen wir, 1500 Euro im Monat verdient? Von dieser Sorte gibt es in Russland und in der Ukraine eine Menge! Man nennt sie dort 'die neue Mittelklasse'. In Wei?russland gibt es auch eine Mittelklasse - die Menschen mit dem Durchschnittslohn von 180 Euro. UEber seinen Kopf springt in Lukaschnko-Land kaum einer, und wenn... Doch suchen Sie mal in Belarus einen, der 1 500 Euro verdient! Und Sie werden darunter kaum einen Unternehmer finden, dafuer lauter hohe Regierungs- und Ministerialbeamte, Abgeordnete und die Mitarbeiter der TV-Propaganda.

Sind es etwa die beruehmten regelmae?ig ausgezahlten Renten, deretwegen sich die Lukaschenko-Regierung in Ihren Augen beruehmt gemacht hat? Fahren Sie durchs wei?russische Land, Herr Steele, und sprechen Sie mit den Alten, den so genannten Lukaschisten, sprich: den eingefleischten Lukaschenko-Waehlern! Und Sie werden schnell erfahren, wovon diese Menschen leben - von 50 -60 Euro im Monat, im allerueppigsten Fall - von 100, und das bei Konsumgueterpreisen, die dem westlichen Durchschnitt nahe kommen! Der Clou, Herr Steele, ist einfach: Diesen angeblich Zufriedenen wurde der Horizont genommen, sie sehen es nicht, wie stark sie es sich auch wuenschten! Ihr Leben ist leider so verlaufen, dass sie nur die Pest mit der Cholera vergleichen koennen, sonst mit nichts.

Gehen Sie in die doerflichen Laeden, Herr Steele, und genie?en Sie den dort herrschenden charmant-nostalgischen sowjetischen Touch: Eine Qual der Wahl haben die wei?russischen Dorfbewohner nicht, denn wozu sie damit konfrontieren, was sie sich ohnehin nicht leisten koennen? Sprechen Sie mit denjenigen, die Ihnen gegenueber Lukaschenko loben, und Sie werden in ihren Stimmen einen uferlosen Zweifel und eine Ausweglosigkeit ohnegleichen durchhoeren. Denn von einer Lukaschenko-Alternative haben diese Menschen keinen Schimmer! Die vom Land und die wenig Gebildeten - sie leben in einem VAKUUM! Von ihrer Unzufriedenheit, die ihnen tief in der Seele sitzt, sprechen sie nicht, denn sie wollen sie nicht eingestehen - nicht einmal sich selber. Das ist der Instinkt einer Nation, der ihr im Laufe ihrer Geschichte eingeimpft wurde: Sicher ist sicher, geheim ist geheim. Im letzten Weltkrieg haben sich die Wei?russen als Partisanen einen ausgezeichneten Ruf erworben.

Apropos der Zweite Weltkrieg. Wenn Sie sich daran erinnern, so hat, Herr Steele, ein beruehmter Landsmann von Ihnen seinerzeit, im Jahre 1938, eine wirklich erfreuliche Nachricht aus Muenchen mitgebracht: "Ich bringe euch Frieden!" Einen solchen Frieden wollen Sie, Herr Steele, die westliche Welt heute mit Belarus und ihrem Herrscher schlie?en lassen?

"Wie wagen Sie es, die Beiden zu vergleichen?" werden Sie mich fragen. "Hat doch der beruechtigte Adolf Hitler viel schlimmere Verbrechen begangen als Alexander Lukaschenko!" Sie werden mir Genozid, Konzentrationslager und Eutanasie-Spritzen anfuehren, an die sich Alexander Lukaschenko nie heranwagen wuerde. Er tut es nicht, und folglich gehen von seinem Regime keine Gefahren aus? Zumindest nicht fuer die westliche Welt. Und die Wei?russen? Das ist ja ein kleines Land, ein europaeischer Zwerg beinahe - mit seinen 10 Mio. Einwohnern! Laecherlich Was zaehlen dann die Leben von vier-fuenf Oppositionellen bzw. von drei-vier tollkuehnen Journalisten?

Haben Sie sich eine Frage gestellt, wie der Westen reagieren sollte, wenn Lukaschenko nicht Belarus sondern Russland regieren wuerde? Glauben Sie nicht, dass in Lukaschenkos Russland automatisch mehr Menschen verschwinden, verhaftet und vernichtet werden wuerden? Bei dem Umfang Landes wuerde sich einiges relativieren. Glauben Sie nicht, dass ein Russland von Lukaschenko fuer den Westen groe?ere Gefahren als Lukaschenkos Wei?russland bergen wuerde?

"Ein Lukaschenko - in Russland? In diesem Land hat er doch gar keine Chance!" wuerden Sie mir erwidern. Mag sein. Allerdings waere ein Lukaschenko fuer Russland eine durch und durch moegliche Perspektive. Vor der anstehenden Praesidentschaftswahl in Russland wird der Boden fuer einen russischen Lukaschenko gruendlich vorbereitet.

Stoebern Sie in einer durchschnittlichen Minsker Buchhandlung. Schnell wuerden Sie eine Broschuere finden mit dem Titel "Die Feinde Russlands und der slawischen Welt gegen Belarus und Alexander Lukaschenko", eine Sonderausgabe der in Moskau erscheinenden Zeitschrift "Nationale Sicherheit und die Geopolitik Russlands". Hier nur ein kurzes Zitat, das fuer sich spricht: "Praktisch die gesamte Bevoelkerung von Belarus will sich mit Russland vereinigen. Dagegen sind nur die juedische Mafia und die einzelnen Nationalisten. Die meisten Wei?russen wuerden sich Russland sofort anschlie?en, doch der weise wei?russische Batska (Anm.: wei?russisch fuer 'Vater') laesst sich Zeit. Denn eine Vereinigung mit Russland wie sie heute moeglich ist, waere fuer Belarus und sein Volk toedlich: Denn unsere russischen Ganoven wuerden in Belarus alles auspluendern, vernichten und zerstoeren, wie sie das bereits in Russland gemacht haben. Russland und Belarus koennen sich nur dann vereinigen, wenn Russland alle Lenkungsriegel des Westens abgebrochen und seine Innen- und Au?enpolitik selbststaendig durchzufuehren beginnt".

Fahren Sie nach Belarus, lieber Herr Steele! Doch geben Sie Gas, beeilen Sie sich!

Denn tun sie es nicht noch diese Woche, kann es sein, dass Sie nie mehr hinzufahren brauchen. Denn halb Belarus wird sich selber nach Europa begeben: junge, gebildete, intellektuelle Menschen, die besten Koepfe des Landes, halten sich laengst aufbruchbereit. Sollte sich nach dem 19.Maerz in diesem kleinen Land zwischen Polen und Russland nichts aendern, kehren diese Menschen ihrer Heimat den Ruecken. Denn sie sind nicht bereit, ihre besten Jahre in einem Sarg zu verbringen.

Is it economy? Stupid!

Tatjana Montik is a freelance journalist, montanja at voliacable dot com

Source:

Google